Lockdown

Lockdown von Dana Berg


Ich bin ein Einsiedel, wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich mich am Rand der Welt einnisten, weil ich aber nicht kann, was ich will, weil ich die Bahnhöfe brauche, die Knoten und Schnittstellen meines kleinen Betriebes, bewege ich mich schrittweise in die Provinz, dass es still und stiller wird. Hier, auf einem kleinen Hügel, oberhalb einer kleinen Stadt, wächst mir ein Apfelbaum ins Zimmer, schlagen die Vögel am Morgen Rat, ist der Verkehr nur ein fernes Hintergrundgrollen. Eine Erinnerung an Verkehr. Das ist die äußerste Stille, die ich mir leisten kann.


Du willst niemanden sehen, du willst nicht reden, nicht denken, nicht ausgehen, dich nicht rühren.


Schon als Kind, fällt mir nun ein, habe ich meine Welt systematisch verkleinert, ich baute mir ein winziges Zimmer in mein kleines Zimmer. Im Garten zog ich ins Indianerzelt. Gesellig war ich nur an hohen Feiertagen.


Das Unglück ist nicht auf dich herabgestürzt, ist nicht über dich hereingebrochen, es ist langsam in dich eingedrungen, es hat sich fast sanft eingeschlichen. Es hat sorgfältig dein Leben durchtränkt, deine Gebärden, deine Stunden, dein Zimmer, wie eine lang verhüllte Wahrheit, eine Selbstverständlichkeit, die man nicht wahrhaben wollte; hartnäckig und geduldig, zäh, erbittert, hat es Besitz ergriffen von den Rissen in der Decke, deinen Falten deines Gesichts.


Meine Oma erzählt noch heute, wie ich als Kind stundenlang in der unbeheizten Diele an einem Campingtisch ausharren konnte, malte oder las, während der Winter durch die Eingangstür kroch. Man hätte mich beinahe vergessen. Man konnte mich getrost vergessen. Im Vergessen, im Unsichtbaren pflege ich wohl meine liebste Existenz.


Du bist nur noch ein Sandkorn, ein zusammengeschrumpftes Menschlein.


Ich bin ein zusammengeschrumpftes Einsiedel, meine Nerven sind über die Jahre sehr dünn geworden, ich stelle mir feine, instabile Fäden vor, die in meinem Kopf vibrieren, heiße Drähte, die in Schwingung geraten, sobald etwas passiert. Es passiert immer etwas in meinem kleinen Betrieb, der keine Werk- und Ruhetage kennt. Es passiert Gewöhnliches und ganz Außergewöhnliches. Ob gewöhnlich, oder nicht, für meine Nerven macht es keinen Unterschied. Eine Pandemie verschreckt mich genauso viel oder wenig wie eine Email, die es zu beantworten gilt.


Eine Pandemie, die alle dazu zwingt, mein Dasein probeweise zu akzeptieren. Gesellig sind wir nur an hohen Feiertagen. Ich fühle mich seltsam schuldig, da mein gewohntes Dasein nun zur Norm wird und ich nur ahnen kann, wie schwierig, gar schrecklich es für andere ist.


Du sitzt da und willst nur warten, warten, bis es nichts mehr zu warten gibt: daß die Nacht kommt, daß die Stunden schlagen, daß die Tage dahingehen, daß die Erinnerungen verblassen.


Eine Pandemie verschreckt mich genauso viel oder wenig wie eine Email, die es zu beantworten gilt. So dachte ich zumindest zu Beginn, da alle zweckoptimistisch von Entschleunigung und Sabbatical redeten. Auch ich. So dachte ich und doch gab es einen Unterschied. Denn dieser Rückzug im Rückzug geschah unfreiwillig.


Zuerst ist es nur eine Art Überdruß, Mattigkeit, als stelltest du ganz plötzlich fest, daß du seit langem, seit mehreren Stunden, das Opfer eines arglistigen, abstumpfenden Unbehagens bist, kaum schmerzhaft und doch unerträglich, der süßliche und erstickende Eindruck, keine Muskeln und keine Knochen zu haben, ein Sack Gips unter Gipssäcken zu sein.


Obwohl ich mein Leben als eine Übung in Rückzug betrachten könnte, versagen die Mechanismen im Ernstfall. Es gibt keinen modus operandi, keine Gebrauchsanweisung, keine Anleitung, kein Handbuch. Es gibt den Mann der schläft von Georges Perec.


Es gibt tausend Arten und Weisen, die Zeit totzuschlagen, und keine gleicht der andern, doch sie kommen alle aufs gleiche heraus, tausend Arten, auf nichts zu warten, tausend Spiele, die du erfinden und sofort wieder aufgeben kannst. Du musst alles lernen, alles, was man nicht lernen kann: die Einsamkeit, die Gleichgültigkeit, die Geduld, das Schweigen.


Mein Denken sitzt in Quarantäne und befindet sich in einem permanenten Ausnahmezustand. Meine Nerven sind alarmiert. Ihr Radius verkleinert sich, verengt auf die Pandemie, auf Zahlenkolonnen und verzweifelte Krisengespräche mit Freund* und Kolleg*innen, während die Vögel immer schriller vor meinem Fenster kreischen.


Etwas zerbrach, etwas ist zerbrochen. Du fühlst dich – wie soll man sagen? – nicht mehr unterstützt: etwas, das dich bisher, so schien dir, so scheint dir, gestärkt hat, wo es dir warm ums Herz wurde, das Gefühl deiner Existenz, deiner Bedeutung fast, der Eindruck, zur Welt zu gehören, in ihr eingebettet zu sein, fehlt dir langsam.


Ich las von behaglicher Balkonflucht, die selbst eine Celan-Lektüre ermögliche, von der Rückkehr zur Natur, von Biedermeier und Idyllik, von innerer Einkehr. Nein, ich las nicht, ich überflog nur noch und verstand nicht mehr, während die Pflanzen auf meinem Balkon in der sengenden Hitze verendeten.


Du liest schon lange nicht mehr.


Nun faulen die Äpfel am Baum und ich habe Nervenschwund. Meine Nerven dünnen aus. Ich verliere sie, wie andere Leute Haare. Inzwischen bin ich ganz kahl im Kopf und wünsche mir eine Stille, die geräumig genug für die Rest-Nerven ist.


Du willst nur dauern, du willst nur das Warten und Vergessen. Du willst das Warten vergessen.


Ich schlafe mich weiter in die Provinz, an den Rand der Welt, wo mich weder Emails noch Pandemien erreichen. Wo die Welt von gestern, nur noch eine Erinnerung ist. Ein Geräusch von Welt, das langsam verklingt, vergessenes Gemurmel, Tropfen um Tropfen, fast verschmolzen mit dem Schlagen deines Herzens, während die Äpfel am Baum leise erfrieren.

(nh)